Susanne Zellinger, Chefredakteurin der deutschsprachigen Flamencozeitschrift ANDA, hat für „wir…im raum flamenco“ einen Text beigesteuert. Danke! Der Text ist im Programmheft von „wir…im raum flamenco“ abgedruckt; der Abend fand am 12.12.2015 im OFF-Theater in Wien statt.
„Avantgardisten sind Leute, die nicht genau wissen, wo sie hinwollen, aber als erste da sind.“ Romain Gary, französischer Schriftsteller und Regisseur (1914 – 1980)
Eine sehr treffende Beschreibung, die, auch wenn sie im ersten Moment zynisch klingt, dennoch das Problem der Avantgarde ziemlich auf den Punkt bringt. Die Avantgarde spielt immer in Zeiten eine Rolle, in denen alles festgefahren ist, in Momenten, in denen es ungeschriebene Gesetze gibt, die dennoch niemand zu durchbrechen wagt. Die Künstler, die den Druck, der durch diese Einschränkungen erzeugt wird, nicht mehr ertragen können, explodieren dann wie ein Druckkochtopf, ihre schöpferische Energie ist noch nicht zielgerichtet, das passiert erst später. Diese Künstler sind es auch, die die erste Welle der Empörung über sich hinwegrollen lassen müssen, aufstehen, sich schütteln und weitergehen.
Die Avantgardisten im Flamenco sind fast alle Kinder der 70er Generation. Geboren in einer Zeit, in der sich Spanien und seine Künstler aus der Umklammerung der Diktatur und den Vorgaben des apollonischen Weltbildes zu lösen versuchten und sich lustvoll Dionysos zuwandten: Lasst uns die Grenzen verwischen, das Erstarrte aufbrechen, es ist verboten zu verbieten! Alles ist möglich, man muss es nur tun. Andrés Marín, Belén Maya, Juan Carlos Lérida oder Israel Galván standen damals im Mittelpunkt des Interesses, sie erledigten die Vorarbeit, sie legten den Teppich, über den heute die zeitgenössischen Flamencos und Flamencas schreiten.
Individuell dürfen sie den Flamenco für sich neu begreifen und erschaffen. Sie tanzen im Bikini zur Musik von Bach, sie werfen sich auf den Boden und kämpfen mit ihrem Schatten, sie bestellen einen tätowierten DJ und stellen sich der Battle.
Na und? Die Basis bleibt der Flamenco und was diese jungen, zeitgenössischen Künstlerinnen gemeinsam haben ist der Respekt vor dieser uralten und dennoch so frischen Kunstform, die heute so viele Möglichkeiten bietet sich zu entfalten, wie kaum eine andere. Denn eines ist klar, wenn die Verbindung zu den Wurzeln gekappt wird, stellt sich schnell Langeweile ein, Beliebigkeit und Austauschbarkeit werden zur Regel und die Freiheit der Kunst zur Farce.
Der Flamenco ist ja das Gegenteil der „L’art pour l’art“, er ist eine Kunstform, die zutiefst mit dem Leben und der jeweiligen Zeit verbunden ist, sonst gäbe es auch keinen zeitgenössischen Flamenco, es gäbe Klassik und Folklore und sonst nichts.