Farruquito war zwei Tage beim Flamencofestival im Tanzhaus NRW und hat viele(s) auf den Kopf gestellt.
Es ist ja schon sehr witzig zu beobachten, was da alles voraus- und mitschwingt. Diese Familiengeschichte, der Clan, die Tradition! Das Charisma und die Geschichten. Er füllt riesige Theater, hat Fans – ich bezeichne sie extra so und nicht „Aficionados“, denn sie sind wie Michael Jackson-Fans, außer Rand und Band… ok, skaliert auf Flamenco-Größe. Aber selbst für Flamenco: er ist einer dieser Superstars mit aaah, ooohhh. Er hat etwas, das über den Tanz hinausgeht.
Wenn er tanzt, dann sind das Ausbrüche, kleine Vulkane (klein?), superschnelle Schritte, Akrobatik, Wirbelwinddrehungen und Stop, Stillstand als gespannte Feder.
Das alles kann ich beobachten, analysieren und gut oder schlecht finden. Lächerlich und übertrieben oder kurios. Ich kann alles im Kopf lassen. Oder ich kann es erleben und: ich kann mich nicht mehr entziehen.
Er hat Ausstrahlung, ein Charisma, man fühlt sich wie magnetisch angezogen von dieser Mischung aus Unschuld und uraltem Wissen. In ihm scheint sich die stolze „Raza de bronce“ zu verkörpern, der Idealtypus eines Gitano – eine Figur aus alten Geschichten[…]. Susanne Zellinger, „tanz03/16“
Faszinierend. Und gut – wieder Fan zu sein. Lustig ist das. Letztendlich habe ich nun auch ein Foto mit ihm. Wie alle anderen Fans, die ihn belagert haben, auf Schritt und Tritt.
Der Vortrag: los Farrucos
Noch vor dem ersten Erleben (ja, mein erstes Mal Farruquito!) erzählt Susanne Zellinger über den großen Farruco (Farruquitos Opa), die Familie, den Zusammenhalt, die außergewöhnlichen Menschen und Schicksale. Eine perfekte Einstimmung auf das Konzert und ein guter Überblick. Mir war der Vortrag zu kurz. Da steckt so viel drinnen, das auch Zeit braucht, um zu wirken. Selbst wenn es nur ein Vortrag ist: hier geht es um etwas Wesentliches in dieser Flamencowelt. Genauso, wie ich den Blick nach weit vorne als essenziell empfinde und dafür Zeit brauche, ist es auch für mich mit dieser Familie. Es schwingt etwas.
Das erste Konzert
Auf der großen Bühne nehmen El Polito (Perkussion), Román Vicenti (Gitarre) und die SängerInnen Mari Vizárraga, Antonio Zúñiga und Pepe de Pura platz. Farruquito kommt und geht, tanzt und wirbelt. Holt sich immer wieder seinen Applaus ab – wie ein Schluck Energie zwischendurch. Es stört mich nicht, denn es wirkt alles echt. Erstaunlich. Das Programm ist locker gesteckt, Fixpunkte sind die Palos (Seguiriya, Tangos, Alegría, Soleá, Fin de Fiesta) und darin die Falestas. Die Zwischenräume bleiben frei für Tagesverfassung und Gemütszustand (aka Improvisation?).
Ich bin begeistert und fasziniert, aber (im Rückblick verstehe ich das, weil ich weiß, wie es sein kann… und am zweiten Abend war): noch nicht berührt. Also: noch nicht so sehr berührt. Aus den Geschichten von „magischen Abenden“ und dem, was ich sehe, kann ich erahnen. Ich merke eine Müdigkeit. Auch Pepe de Pura packt mich nicht so, wie er schon andere gepackt und verzaubert hat. Aber ich kann mir vorstellen, dass er es kann.
Manche, die Farruquito schon öfters gesehen haben, sind enttäuscht. Es war vielleicht ein Konzert wie viele andere. Großartig als Arbeit, technisch perfekt. Natürlich. Aber vielleicht mit weniger Glitzern als sonst.
Die Masterclass am nächsten Morgen
Wir sind alle nervös, vorfreudig und unsicher. Fragen schwirren durch die Luft, die auf Vermutungen basieren. Wird er seine atemberaubenden, utopisch schnellen Schritte durchpeitschen? Wird er rücksichtslos über uns drüberfahren? Wird er uns überhaupt sehen? Ich habe mich entschieden, an der Masterclass teilzunehmen, weil ich andere Geschichten gehört habe. Von einem warmherzigen, großzügigen, einfühlsamen Lehrer, der behutsam mit Menschen umgeht. Darauf konzentriere ich mich in der Vorbereitung. Und wieder: ich kann die Geschichten hören, sie glauben oder nicht – und ich kann sie erleben. Sie zulassen und tatsächlich verzaubert werden. Wir machen Bulerías, er passt sein Material an unser Können an, erzählt so viel über sich, sein Lernen und seinen Weg – und versucht daraus Hinweise herauszuarbeiten, die für uns annehmbar und brauchbar sind. Er korrigiert und gibt Auswege. Farruquito ist in seinem Unterricht sehr klar, unmißverständlich und immer wertschätzend. Schon alleine das als Schülerin zu erleben ist luxuriös. Und dann kommt sein Wesen, seine Geschichte und sein Können dazu und … ja!
Das Konzert am zweiten Abend
Ich bin unendlich froh, Farruquito und Compañia an zwei aufeinanderfolgenden Abenden erlebt zu haben. Wieder ist der Saal gesteckt voll – und bis auf die Programmfixpunkte ist nichts gleich. Tatsächlich: der Inhalt ist anders. Eine andere Dynamik, andere Letras, andere Energie. Und das nicht nur, weil alle Mikrophone viel lauter gedreht sind. Alle drehen mehr auf, vibrieren, sind lauter, kräftiger und stiller zwischendurch. Und da ist es – das Glitzern, die Blitze und Funken. Als wäre ein Motor gestartet worden. Und jetzt packt mich auch Pepe de Pura und mir ist klar, was es heißt, wenn man keine Worte dafür hat. Seine Stimme ist eine Mischung aus sensibler Zartheit und unaufdringlicher Männlichkeit, aber doch… so roaarrr. Es gibt Momente, wo Pepe de Pura singt und Farruquito mit/zu ihm tanzt und das sind meine absoluten Lieblingsmomente. Hier mag ich die Zeit anhalten (aber nein! Nicht anhalten, sie sollen weitermachen, aber nur sie. So. Die beiden an diesem Abend.).
Das Publikumsgespräch
Nach diesem Konzert bin ich euphorisiert und erschöpft gleichzeitig. Ich gehe als Zuschauerin ja mit auf diese Reise, lasse mich packen, öffne genauso mein Herz und muss dann schauen, es auch wieder zu schließen, wieder zurückzukommen. Wir setzen uns in die erste Reihe, die näher ist, als bei anderen Publikumsgesprächen, fast zu nahe. Das Gespräch führt Susanne Zellinger mit Farruquito, el Polito und Mari Vizágarra wie immer sehr kurzweilig, lustig und informativ. Und wieder: ich könnte alles analysieren, hinterfragen, in einen größeren Kontext setzen. Ich habe mich entschieden, sein zu lassen was ist und zu erleben. Die Nähe, die Intensität, die Warmherzigkeit, den Schelm im Nacken. Im Gespräch geht es um den Zweifel, das Arbeiten, Familienwerte, Menschlichkeit, die Aufgabe, diese Schule am Leben zu erhalten, die Kunst weiterzutragen, …
Danach wollen die Künstler essen und die Fans Fotos machen. Eine Traube bildet sich um Farruquito, der auch hier Profi bleibt, geduldig und zuvorkommend. Irgendwann haben alle ihr Foto.
Ich bin begeistert. Weil ich berührt werde. Weil es schön ist, wieder so Fanin zu sein. Weil es etwas Besonderes ist, diese Momente erleben zu können – weil Farruquito ein wichtiger Mensch (im/für den Flamenco) ist, weil Legenden faszinierend sind und einen wesentlichen Beitrag für die Geschichte leisten.
Kooperation
Ich werde während des zweiten Festivalwochenendes hier im Blog, auf Twitter @jupe140 und Instagram @jupeclick berichten, das mache ich schon seit vielen Jahren so. Ich freue mich sehr, dass meine Arbeit vom Festival und speziell von Dorothee Schackow honoriert wird, danke! Deshalb werde ich alle Blog-Beiträge, die während des Festivals entstehen, kennzeichnen (im Bild steht dann „Reporterin“ mit drauf).