Ich habe mir in Barcelona zwei Aufführungen von „Al Baile“ gegönnt. Die Premiere und das zweite Mal (21. und 22. Oktober, Mercat de les Flors). Während der Stücke habe ich mitgeschrieben. Jetzt versuche ich, zu ordnen… Es ist meine erste Annäherung an dieses Stück. Mal sehen.
Aber natürlich – man kann alles immer ganz anders sehen.
„Al Baile“ von Juan Carlos Lérida ist eine Lesart der Herkunft des Flamencotanzes, oder vielleicht nichtmal der Herkunft. Aber ich glaube schon. Ja, so habe ich den ersten Teil gesehen. Als eine Assoziationskette. Woher kommen diese speziellen Bewegungen – woher kommt die Ästhetik des Flamencotanzes? Aus Sport? Spiel? Kampf? Viele der Bilder konnte ich auf den ersten Blick zuordnen. Ah, Basketball! Ah, Speerwurf! Ah, Kugelstoßen! Ah, Fechten! Durch die langjährige Auseinandersetzung mit „de estetica flamenca“ fühlte ich mich geborgen in manchen Szenen von „Al Baile“. Und dann auch: was ist sozusagen die Essenz? Was bleibt übrig, wenn man alles einkocht, kondensiert? Ich sah Spiralen, Verdrehungen. Ich sah Beziehungen. Ich hörte Geräusche der Füße. Ich sah ein Stoppen, ich hörte ein „ah“. Ist es das, letztendlich?
Die drei Darsteller/Tänzer (Juan Carlos Lérida, David Climent, Gilles Viandier) bewegen sich im ersten Teil von „Al Baile“ durch eine mögliche Entstehungsgeschichte des Flamenco-Tanz-Repertois. Inklusive Zapateados, die als solche fast nicht hör/erkennbar waren. Oder doch – aber nicht die bekannte Version. Eher als eine Version, die näher bei einer jazzigen Improvisation liegt als bei einer Escobilla. Näher am Fallen als am Stampfen. Als genügend Material zusammengetragen, erarbeitet, ertanzt wurde, beginnt der zweite Teil. Er wird in das Bild hineingewischt wie eine Übermalung. Er wird in die Ohren gespült durch anderssprachige Fernseh- und Radio-texte über den Flamenco. Ich höre Sacromonte, so muss die Tänzerin, Flamenco ist, Flamenco war. Ich höre russisch? tschechisch? spanisch? Juan Carlos Lérida schlüpft in die Rolle eines Kindes, das Flamenco lernt. Operiert bekommt. Hinein? Hinaus? So klar war mir das nicht aber das macht nichts. Etwas wird verändert. Vielleicht ist es seine eigene Geschichte, die hier als Ausgangspunkt dient. Oder die vieler TänzerInnen, die mit drei Jahren begonnen haben, Flamenco zu lernen. Mit drei Jahren! Und irgendwann stehen sie im Tanzstudio und an ihnen wird herumgezupft, sie werden angebrüllt, sie bekommen Stakkato-Aufgaben, Soleá, Bulería, mehr Fleisch, mehr Eleganz. Sie sind Hüllen und manchmal Roboter mit Fernbedienungen. Und so wirbeln die drei Darsteller wieder umeinander, schlagen auf ihre verschwitzten Oberkörper, zupfen an Häuten und werden zu dem Fleischkörper, mit dem sie das Stück begonnen haben. Ah, nein – sie ordnen sich und liegen wie eine Bewegungsstudie aufeinander.
Erster und zweiter Teil – und so ein Unterschied! Im ersten Teil bleibt alles viel abstrakter. Oder vielleicht stimmt das nicht? Ich habe konkrete Elemente gesehen, Ellbogen, Handbewegungen, gesamte Körperposen. Rund um diese Elemente entstanden Geschichten. Jedes Element war eine kleine Heldengeschichte – was war vorher? was ist dann passiert? Wie war es nachher? Rollen wurden vertauscht (David Climent als Juan Carlos Lérdia? Oder habe das nur ich so empfunden? Es war erstaunlich und verblüffend!), es wurde miteinander und gegeneinander bewegt. Aber es war doch abstrakt. Mir als Zuschauerin bliebt viel Raum übrig, um meinen Teil zu sehen.
Dann der zweite Teil – eine Geschichte voller Klischees und Erinnerungen. Alles war sehr konkret und ja, auch das ist Flamenco, wie er uns verkauft wird und wie ihn wohl viele erlebt haben. Es gibt diese widersprüchlichen Geschichten und Schulen. Modern und verstaubt. Jetzt und damals. „Damals“ ist in vielen Ecken aber noch immer „jetzt“ und das macht es starr. Für mich waren beide Teile gut. Unzusammenhängend, aber das muss vielleicht auch nicht zusammenhängen.
Das Bühnenbild und das Licht fand ich beides außergewöhnlich großartig. Die Bühne des Großen Saals im Mercat de les Flors ist riesig. Durch die Licht-Konzeption (Marc Lleixa) war es plötzlich statt mühsam sogar notwendig, so viel Platz und so viele Räume zu haben. In der Mitte der Bühne die traditionelle Bühne, markiert durch einen andersfarbigen Boden und nach Hinten abgetrennt mit einem Vorhang aus Schnittmustern. Waren es Schnittmuster oder sah das nur ich als Schneiders-Enkelin so? Ein bißchen „Schweigen der Lämmer“-gruselig war das schon. Aber auch spannend. Was wird mit den Schnittmustern passieren? Wessen Schnitte waren das? Die Schnittmuster hingen an einem Vorhangsseil an Kleiderhaken und wurden hin- und hergeschoben. Als Übergang zwischen den Teilen ließ Gilles Viandier um seinen ohnehin langen Körper eine große, vielschichtige Gestalt entstehen: er kleidete sich in Unmengen dieser Schnittmuster, sie hingen an ihm wie ein überdimensionales Kleid, unter dem die anderen beiden verschwinden konnten. Dann drehte er sich wie ein Derwisch und ich wollte, dass auch dieses Bild niemals aufhört. Das Papier, das im Wind flattert. Ach.
Meine zweite Annäherung an das Stück steht auf der Seite von Flamenco Divino.